Interview mit Dr. Tina Jung, Marianne-Schminder-Gastprofessorin für Geschlechterforschung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

Michaela Frohberg und Morena Groll von der Koordinierungsstelle Genderforschung & Chancengleichheit Sachsen-Anhalt freuen sich auf die Zusammenarbeit mit der neuen Marianne-Schminder-Gastprofessorin für Geschlechterforschung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und haben die Chance für ein Interview genutzt, um Dr.in Tina Jung vorzustellen.

 Dr.in Tina JungWie war Ihr wissenschaftlicher Werdegang bis hin zur jetzigen Position als Gastprofessorin an der OVGU?

Studiert und promoviert habe ich an der Philipps-Universität Marburg; dort war ich in verschiedene Arbeitsbereiche eingebunden, u.a. beim Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung, bei der Professur für Politik und Geschlechterverhältnisse am Institut für Politikwissenschaft, bei der Forschungsund Kooperationsstelle Arbeit, Demokratie und Geschlecht und beim interdisziplinären Promotionskolleg „Geschlechterverhältnisse im Spannungsfeld von Arbeit, Organisation und Demokratie“. Den Grad einer Doktorin für Philosophie (Dr. phil.) habe ich 2016 im Fach Politikwissenschaft mit einer Arbeit zum Verständnis von „Politik“ und „Kritik“ in der Kritischen Theorie und in der feministischen Theorie verliehen bekommen. Nach meiner Promotion bin ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin an die Justus-Liebig-Universität Gießen gewechselt und habe dort schwerpunktmäßig zu Selbstbestimmung, Menschenrechte und Gewalt in der Geburtshilfe gearbeitet. Mit Förderung des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst (HMWK) habe ich zwei Forschungsprojekte zur Situation in der Geburtshilfe geleitet und bearbeitet. Anfangs war es noch recht ungewöhnlich, dass eine Sozialwissenschaftlerin zum Thema Geburtshilfe arbeitet; inzwischen ist „Geburt“ in der interdisziplinären Frauen- und Geschlechterforschung angekommen und ein virales Forschungsfeld. Was mich besonders freut, ist, dass über diese letzten Jahre hinweg Vernetzungen nicht nur innerhalb der Sozialwissenschaften entstanden sind, sondern auch mit der Hebammenwissenschaft, Medizin und Psychologie. Ein wichtiger Bestandteil der wissenschaftlichen Vernetzung über Disziplinengrenzen hinweg war die Gründung des Nachwuchswissenschaftler*innennetzwerks „Politiken der Reproduktion“, das ich 2018 gemeinsam mit Dr. Kerstin Lundström, der Geschäftsführerin des Gießener Graduiertenzentrums Wirtschafts- , Sozial- und Rechtswissenschaften (GGS), ins Leben gerufen habe. Innerhalb der Förderlaufzeit von zwei Jahren konnten wir ein fachlich und auf die Situation von Wissenschaftler*innen in Qualifikationsphasen zugeschnittenes Programm realisieren, das auf die Förderung sowohl der Karriereentwicklung in der Wissenschaft, als auch auf die Förderung des fachlichen Austauschs zielte. Daneben haben sich themenspezifische Kooperationen mit Berufsverbänden, zivilgesellschaftlichen Initiativen und mit politischen Stiftungen entwickelt; ich werde insbesondere zum Thema Gewalt in der Geburtshilfe viel für Vorträge und Fortbildungen für Praktiker*innen in der Geburtshilfe und in der Sozialen Arbeit angefragt. Es ist toll, dass sich hier so viel bewegt! Ein Highlight meiner Post-Doc-Zeit war die Leitung des interdisziplinären Projekts „The Future of Labour“ mit einem Team aus Kolleg*innen der Hochschulen Hamburg, Fulda, Frankfurt, dem Gender- und Frauenforschungszentrum der hessischen Hochschulen (gFFZ) und der Aktion Erzählcafé – Der Start ins Leben. Das Projekt wurde im Rahmen des Hochschulwettbewerbs zum Wissenschaftsjahr 2018 gefördert und am Ende der Laufzeit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und Wissenschaft im Dialog (WiD) als eines von drei Gewinnerprojekten ausgezeichnet. In dem Wissenschafts-Praxis-Kooperationsprojekt haben wir unter dem Titel „The Future of Labour – Arbeit rund um die Geburt zukunftsfähig gestalten“ in insgesamt sechs Städten Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen, Politiker*innen und interessierte Bürger*innen im Rahmen von Erzählcafés bzw. Zukunftswerkstätten zusammengebracht. Das war eine sehr intensive Zeit, in der mir die Bedeutung von Wissenschaftskommunikation und die Relevanz der Third Mission von Universitäten besonders deutlich geworden ist.

Wo werden Ihe Schwerpunkte innerhalb der Gastprofessur liegen? Was möchten Sie gern verwirklichen im Rahmen der Laufzeit der Professur?
In der Lehre möchte ich verschiedene Bereiche abdecken: Zum einen ist mir ein Anliegen, in die Grundlagen der Gender Studies einzuführen und den Studierenden Problembewusstsein und Sensibilität für Gender-Aspekte nahe zu bringen. Dies beinhaltet u.a. zu erkennen, an welcher Stelle, wie und warum Geschlechterverhältnisse für die politische, soziale und wirtschaftliche Gestaltung von Gesellschaft eine zentrale Rolle spielen. Die sog. Corona-Krise hat es ja sehr eindringlich vor Augen geführt, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie für Frauen* und Männer* nicht gleich waren und sind, sondern zum Teil neue wie alte geschlechtsspezifische Ungleichheitsstrukturen befördert haben. Dies gilt etwa in Bezug auf Belastungen der physischen und psychischen Gesundheit, auf (Erwerbs-)Arbeit, Einkommen und (innerfamiliäre) Arbeitsteilung, Gewalt und politische Partizipation. Auch die politischen Strategien zur Krisenbewältigung waren und sind nicht geschlechtsneutral. Zu verstehen, auf welchen gesellschaftlichen Strukturen dies basiert und wie es anders sein könnte, wird ein Fokus in der Lehre sein. Weiter lehre ich zum Politischen System der BRD, zu Sozialpolitik und sozialer Ungleichheit, Care-Arbeit, Gesundheits- und Familienpolitik sowie im Bereich der Politischen Theorie zu kritischen, feministischen und queeren Gesellschaftstheorien. Hier werde ich im kommenden Semester mit Studierenden feministische und queere Entwürfe radikalen sozialen Wandels lesen und diskutieren. In der Forschung gibt mir die Gastprofessur die Möglichkeit, meine Schwerpunktthemen Gesundheit – Geschlecht – Gewalt zu vertiefen und auszubauen. Derzeit arbeite ich neben der Perspektive auf eine menschenrechtsbasierte Geburtshilfe zu einem Verständnis von Gewalt im Geschlechterverhältnis, das die unterschiedlichen Formen von patriarchaler Gewalt und deren Auswirkungen insbesondere im Leben FLINTA* reflektiert. Ich verknüpfe dies mit der politikwissenschaftlichen Erarbeitung eines gesellschaftstheoretisch fundierten & intersektional gelesenen Traumaverständnisses, aufbauend auf dem kontextualisierten Traumakonzept, das in den Soma Studies, in der Sozialen Arbeit und in der feministischen Beratungspraxis entwickelt worden ist. Neben diesen eher konzeptionell-theoretischen Auseinandersetzungen richte ich den Blick empirisch auf die globalen Entwicklungen von Gewalt gegen FLINTA* und auf die Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland. Hier gibt es sehr großen Forschungsbedarf; umso erfreulicher, dass in Sachen-Anhalt mit der unabhängigen Monitoring-Studie von Heinz-Jürgen Voß schon ein wichtiger Grundstein gelegt worden ist.

Bereits in unseren ersten Gesprächen wurde deutlich, dass Sie sich neben Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit auch umfangreich feministisch engagieren. Erzählen Sie doch bitte darüber. Was ist daran wichtig und warum?
Zunächst möchte ich unterscheiden zwischen feministischem Engagement als politischer Praxis oder Aktivismus auf der einen Seite und feministischer Wissenschaft auf der anderen Seite. Mein Verständnis dessen, wofür ich als Wissenschaftlerin stehe, ist das einer feministischen Wissenschaft. Das setzt einen etwas anderen Akzent als der Begriff Frauen- und Geschlechterforschung: Diese hat üblicherweise genau das zum Gegenstand, was benannt ist, nämlich Geschlechterverhältnisse oder Geschlecht als Analysekategorie. Das kann, muss aber nicht notwendig mit einer kritisch-emanzipatorischen Perspektive auf Gesellschaft verbunden sein; es gibt durchaus einige Ansätze innerhalb der Gender Studies, die sich nicht als feministisch verstehen. Für meine eigene wissenschaftliche Arbeit ist Geschlecht selbstverständlich ebenfalls als Analysekategorie relevant, aber als den eigentlichen Gegenstand meiner Arbeit würde ich – wie weiter oben ja auch gemacht – spezifische gesellschaftliche Themenstellungen benennen, z.B. Gewalt, Gesundheit, Selbstbestimmung und Demokratie. Das tue ich aus einer feministischen Perspektive, das heißt, dass es darin jeweils um die Analyse von Macht und Herrschaft, Ungleichheit und Missbrauch, und um die Entwicklung von Perspektiven für Freiheit, Solidarität, Demokratie, Menschenrechte und Gerechtigkeit geht. Wissenschaft ist eine Tätigkeit in der Gesellschaft, eine gesellschaftliche Praxis. Es ist meines Erachtens wichtig, dass Wissenschaftler*innen sich dessen bewusst sind und die eigenen Voraussetzungen, Prämissen und auch Grenzen dessen, was sie in den Blick bekommen, reflektieren. Die Idee etwa von Wissenschaftler*innen, die „in Einsamkeit und Freiheit“ in ihrem Arbeitszimmer oder Labor abgeschottet von der Welt geniale Ideen haben, ist Ausdruck einer ganz bestimmten, männlich-weißen, bürgerlichen Arbeitskultur in der Wissenschaft, die darauf beruht, dass die Notwendigkeiten des Lebens, soziale Beziehungen, Familie, Fürsorgetätigkeiten etc. lange ausgeblendet blieben. Dies macht es bis heute institutionell und strukturell all jenen schwer, eine wissenschaftliche Karriere zu verfolgen, die in ein ‚jenseits‘ der Wissenschaft eingebunden sind – z.B. als Mütter*, als pflegende Angehörige, als politisch oder ehrenamtlich Tätige. Ungleichheiten wirken auch entlang class, race, Sexualität oder Behinderung. Das ist nicht nur eine Frage von Benachteiligungsstrukturen innerhalb der Institutionen gesellschaftlicher Wissensproduktion – wer bekommt unter welchen Bedingungen Zugang? -, sondern damit einhergehend auch eine Frage, wer zu welchen gesellschaftlichen Erfahrungen und Lebenslagen forscht, mit welchen Begriffen, Theorien und Methoden. Vor diesem Hintergrund ist es Teil meines Engagements, dass ich auch in Netzwerken aktiv bin, die sich mit Aspekten von Chancengleichheit und Diversity in der Wissenschaft beschäftigen, etwa in der Rektoratskommission und im Netzwerk Chancengleichheit und Diversität der OVGU, beim Magdeburger GenderCampus, und im Netzwerk Mutterschaft und Wissenschaft. Ich bin in diesem Kontext z.B. sehr gespannt auf die 8. Ladies Night for Women in Engineering Science, bei der ich meine Erfahrungen weitergeben darf – ich freue mich auf den Austausch und auf die unter diesem Dach ebenfalls stattfindende Lesung des Buchs „Mutterschaft und Wissenschaft“ mit den Herausgeber*innen.

Als landesweit aktive Koordinierungsstelle interessiert uns natürlich auch, wie Sie sich im landesweiten genderwissenschaftlichen und gleichstellungsaktiven Netzwerk sehen?
Ich freue mich sehr über die Möglichkeiten der Zusammenarbeit und darüber, dass ich zu verschiedenen Aktivitäten eingeladen worden bin (und sich ganz nebenbei meine Ortskenntnisse, wo es guten Kaffee gibt, erweitern)! Mein bisheriger Eindruck ist, dass die Marianne-Schminder-Gastprofessur hier sehr willkommen geheißen wurde als Teil eines lebendigen und inspirierenden Netzwerks, aus dem heraus bereits jetzt auch schon einiges an gemeinsamer Kooperation im Entstehen ist: Ich konnte bereits zum Planungsteam des Landesweiten Tags der Genderforschung unter dem Dach der KGC hinzustoßen, den wir für den 17. November 2022 vorbereiten. Dieser Tag wird die Möglichkeit bieten, Wissenschaftler*innen aus Sachsen-Anhalt und überregional zu vernetzen, die zu Gender-Themen arbeiten und sich dort mit ihren Arbeiten zu präsentieren. Mit ganz besonders viel Freude blicke ich auch der Jubiläumsveranstaltung der KGC am 2. Juni entgegen – erstmal ganz herzlichen Glückwunsch an dieser Stelle für die erfolgreiche Arbeit der letzten 20+1 Jahre! Zu dieser Gelegenheit haben wir uns für eine Kooperation zusammengefunden, bei der neben der KGC und der Marianne-Schminder-Gastprofessur auch die Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt und das Kompetenzzentrum geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe Sachsen-Anhalt e.V. als Partner*innen beteiligt sind. Zusammen organisieren wir – gewissermaßen als abendliches Highlight der Jubiläumsveranstaltung – eine Lesung des Handbuchs „Feministische Perspektiven auf Elternschaft“, das von Lisa Haller und Alicia Schlender herausgegeben worden ist und bei dem ich auch als Autorin vertreten bin.

Was würden Sie sich für die Genderforschung in Sachsen-Anhalt wünschen?
Ganz allgemein ist wünschenswert, dass die Relevanz von Genderforschung für die zukunftsfähige Bewältigung der großen und wichtigen Herausforderungen unserer Zeit – Gesundheit, Arbeit, Demokratie, Frieden, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit & Solidarität – strukturell, institutionell und inhaltlich in Politik und Wissenschaft abgebildet ist. Ganz persönlich freue ich mich auf eine Intensivierung der Kooperationen hier an der OVGU und auf Landesebene, und zwar auch im Sinne eines inhaltlichen Austauschs, der zugleich die schon vorhandenen Potentiale für Genderforschung an der OVGU und im Land stärken kann. In diesem Sinne wird mit Beginn des kommenden Sommersemesters den Lektürekreis „Gender Studies und feministische Bewegungen“ an der Marianne-Schminder-Gastprofessur gegründet. Der Lesekreis richtet sich an interessierte Wissenschaftler*innen aller Disziplinen, ist aber auch für Praktiker*innen und engagierte Studierende offen. Wir beginnen mit einem kleinen Bändchen mit Schriften von Audre Lorde, Mitleser*innen sind herzlich willkommen und können sich gerne für weitere Informationen bei mir melden.

 

Vielen Dank für Ihre Ausführungen und wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit!

 

Das Interview erschien im März 2022 im Rundbrief der KGC

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